Gretje Gerdes - eine "schändliche Person"
(Bernd Josef Jansen)
Lockere Sitten und zweifelhafte Moral sind kein ausschließliches Phänomen der heutigen Zeit. Auch schon früher gab es Menschen, die bewusst die gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit brachen, oder durch äußere Umstande dazu gezwungen wurden. Nicht nur in den Städten, wo geduldete Prostitution in bestimmten Vierteln oder Gassen stattfand, sondern auch auf dem "rückständigen Land" sprechen die Akten der Gerichte eine deutliche Sprache: neben Beleidigungen, Verleumdungen und den zahlreich vorkommenden Körperverletzungen sind auch Fälle von Ehebruch und "Unzucht", also Verkehr zwischen Unverheirateten, verzeichnet. In den Taufregistern der Kirchen sind uneheliche Kinder nicht so selten, wie man vielleicht heute glaubt.
Einen vielleicht besonders schweren Fall haben wir mit Gretje Gerdes aus Collinghorst vor uns. Gretje wurde in Collinghorst geboren und am 23. November 1742 in der dortigen Dreifaltigkeitskirche getauft. Ihr Vater Gerd Folckerts war Tagelöhner und stammte aus Großoldendorf bei Remels, ihre Mutter Stine Lücken war gebürtige Collinghorsterin. Zwei ältere Geschwister starben als Kleinkinder, so dass Gretje mit ihrer nur etwa ein Jahr älteren Schwester Hilke aufwuchs. Die Mutter starb am 2. Februar 1759 in Collinghorst mit nur 50 Jahren und ließ ihren Mann mit seinen 17 und 16 Jahre alten Töchtern zurück. Hilke heiratete 1761 den aus Börger stammenden Eilert Gerdes, der wohl zu ihr ins väterliche Haus zog. Die Tatsache, dass Eilert katholisch war, wird im streng protestantischen Collinghorst sicher nicht gerne gesehen worden sein; dass die Braut bei der Trauung auch schon im zweiten Monat schwanger war, wird man kaum an die große Glocke gehängt haben. Die Kinder des Paares wurden allerdings alle evangelisch getauft, was darauf hinweist, dass Eilert den Glauben seiner Frau annahm. Bei zwei Kindern des Paares war Gretje 1762 und 1768 Taufpatin.
Gretje Gerdes selber war nicht verheiratet, bekam aber 1764 eine uneheliche Tochter Engel, die am 25. April dieses Jahres in Collinghorst getauft wurde. Der Vater des Kindes war der Collinghorster Bauernsohn Arend Ulpts, der Gretje allerdings nicht, wie in solchen Fällen meist üblich, nachträglich heiratete. So blieb Gretje mit ihrer Tochter im Haushalt ihrer Schwester und ihres Schwagers wohnen. Ihr Vater Gerd Folckerts musste diese Schande nicht mehr erleben, da er ein Jahr vorher am 27. Juni 1763 im Alter von 60 Jahren verstorben war. Als Mutter eines unehelichen Kindes stand Gretje sicher am Rande der dörflichen Gemeinschaft, und auch ihre Tochter wird als "Bastard" keinen leichten Stand gehabt haben. Zu allem Unglück bekam Gretje 1769 ein zweites uneheliches Kind, das am 16. August in Collinghorst auf den Namen Gerd getauft wurde. Als Vater des Kindes konnte (oder wollte) Gretje nur einen "Gerd aus Westfalen" angeben - der Vater war also längst über alle Berge.
Zum offensichtlichen Skandal kam es einige Jahre später. Als unverheiratete Frau mit zwei unehelichen Kindern konnte Gretje keinen eigenen Haushalt führen. Als Magd konnte sie ebenfalls nicht arbeiten, denn kein "anständiger" Bauer hätte ein solches gefallenes Mädchen in sein Haus aufgenommen. Man kann also davon ausgehen, dass Gretje weiterhin bei ihrer Schwester wohnen blieb. Die Beziehung zu ihrem Schwager Eilert Gerdes war offensichtlich besser, als es ihrer Schwester Hilke lieb sein konnte: am 10. Januar 1777 wurde Gretjes drittes "Hur-Kind", eine Tochter mit dem Namen Stientje, geboren und am 13. Januar in Collinghorst getauft. Vater des Kindes war ihr Schwager Eilert Gerdes. Der Collinghorster Pastor schrieb zu dieser Taufe eine bittere Bemerkung ins Kirchenbuch:
"NB. Der Vater dieses Kindes ist ihr Schwager, Eilert Gerdes, wie sie selbst bekant hat. Von dieser schändlichen Person sagen viele in der Gemeine, daß dieses, das 4te schon sey, und sie das dritte soll an die Seite gebracht und weggeschaffet haben. Ist es also, so räche Gott das unschuldige Blut an dem Leibe der Mutter und errette noch ihre Seele durch wahre Bekehrung. Amen."
In Collinghorst gab es also das Gerücht, dass Gretje zuvor ein weiteres uneheliches Kind bekommen hatte, dieses dann tötete und heimlich verschwinden ließ. Ein schwerer Vorwurf, der aber ohne Folgen blieb, da er nur auf Gerüchten beruhte. Alleine die Tatsache, dass offenbar viele Collinghorster ihr so eine Tat zutrauten, sagt viel darüber aus, was ihre Mitmenschen (einschließlich des Pastors) über Gretje dachten. Was einer überführten Kindsmörderin drohte, zeigt der Fall der Styncke Wilmes aus Papenburg. Diese wurde am 31. März 1688 in Aschendorf auf dem Richtplatz beim Nienhaus öffentlich mit dem Schwert geköpft. Das Köpfen galt dabei als sehr "humane" Strafe und wurde in diesem Fall nur deswegen angewandt, weil Styncke Wilmes Vater das Kind in ihrem Auftrag umgebracht hatte (er war pikanterweise auch der Vater des Kindes, das er in blutschänderischer Weise mit seiner Tochter gezeugt hatte). Im Allgemeinen sah die damals gültige, 1532 von Kaiser Karl V. herausgegebene "Peinliche Halsgerichtsordnung" Constitutio Criminalis Carolina für Kindsmörderinnen das Pfählen, lebendige Begraben oder Auseinanderreißen des Körpers mit glühenden Zangen vor, in Ausnahmefällen konnte die Strafe zu "Ertränken" gemildert werden. (Artikel 131: "Jtem welches weib jre kind, das leben vund glidmaß empfangen hett, heymlicher boßhafftiger williger weiß ertödtet, die werden gewohnlich lebendig begraben vnnd gepfelt, Aber darinnen verzweiffelung zuuerhütten, mögen die selben übelthätterinn inn welchem gericht die bequemlicheyt des wassers darzu vorhanden ist, ertrenckt werden...")
Gretjes Tochter Stientje starb schon am 2. Oktober 1777 in Collinghorst. Von Grietje selbst gibt es in den dortigen Kirchenbüchern allerdings keinen Sterbeeintrag, ebenso wenig von ihrer Schwester Hilke und ihrem Schwager Eilert Gerdes. Auch die vier Kinder von Eilert und Hilke sind dort weder gestorben, noch haben sie in Collinghorst geheiratet. Die ganze Familie ist demnach aus Collinghorst weggezogen - wohin, ist unbekannt. Die beiden überlebenden Kinder Engel und Gerd tauchen einige Jahre später in Aschendorf wieder auf. Engel (Angela) Gerdes heiratet hier am 18. Mai 1784 den Knopfmacher Tobias Sabel, dessen Vater einst aus Böhmen ins Emsland gekommen war. Ihr Bruder Gerd Gerdes heiratet am 12. Februar 1793 die Bauerntochter Christina Fecker aus Aschendorf. Gretje Gerdes ist meine fünffache Urgroßmutter:
Gretje Gerdes *1742 + nach 1777
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Engel (Angela) Gerdes *1764 +1834
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Anna Margaretha Sabel *1787 +1856
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Peter Engelbert Jansen *1824 +1896
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Engelbert Jansen *1870 +1949
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Bernhard Jansen *1908 +1971
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Johann Jansen *1940
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Bernd Josef Jansen *1969