Der Werwolf

In den Gerichtsprotokollen des Gerichtes Düthe/Lathen aus dem 17.Jh. findet sich eine kurze Notiz: 

"Am 23.ten Februarij Anno 1644
[Am Rand] Johan Niehoff und Herman Hesßelingk zu Aelden
Demnach Herman Hesßelingk zu Aelden in den Schwedischen Zeitten Ihme Niehoff hinterrucks wie angegeben worden, vor einem Waerwolff, Welches er Hesßelingk seines wisßens in abrede wahr nicht gethaen zu haben außgeschreÿet haben solte und dieße worter nun hinwiederumb unter den Kindern uffgeruffet, und verweißlich vorgehalten, und uff die ban geprachtt wurden, Alß hatt er Hesßelingk öffentlich bei seinen wahren wortern bekandt das er nicht gewißte dieße worter geredet zu haben, Sondern wißte anders nichts, wie dan auch alle seine Nachbaern alle ehr und redligkeitt von Ihme zu praedicieren, und nachzureden, hette auch nichtt dießes geruchts nachgedachtt, vil weiniger von anden gehoertt, Welches er Hesßelingk vor Aller menniglichen betzeugtt und bekandt haben wolle, Geschehen in anweßen der Erbaern Herman Zum Kralle, und Gerdten Kleyes zu Aelden, die & anno quibus supra."

Demnach hatte Johann Niehoff in Ahlen den ebenfalls dort wohnenden Hermann Heßling wegen Verleumdung vor Gericht angeklagt. Die ganze Sache lag schon einige Jahre zurück, denn die "Schwedische Zeit", also die Besetzung des Emslandes durch schwedische Truppen im Zuge des 30jährigen Krieges hatte im Winter 1632/33 begonnen und endete mit deren Vertreibung im Frühjahr 1639. Heßling habe also ihn, Niehoff, hinter dessen Rücken als Werwolf "ausgeschrien". Johann Niehoff wurde nun von den Kindern des Dorfes "uffgerufet", also lautstark gehänselt, und ihm wurde die vermeintliche Tatsache, ein Werwolf zu sein "verweißlich" (vorwurfsvoll, tadelnd) vorgehalten und alles noch "uff die ban geprachtt", also auf offener Straße verbreitet. Man kann sich den armen Niehoff regelrecht vorstellen, wie er von einer grölenden Schaar von Kindern verfolgt und beschimpft wurde.

Werwolf (Holzschnitt von Lucas Cranach, 1512)
Der Werwolf (Holzschnitt von Lucas Cranach, 1512)

Um die Schwere dieses Vorwurfes zu verstehen, ist ein kurzer Blick in die Mentalitätsgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit nötig. Der Glaube an Werwölfe scheint, wie schon Höhlenmalereien nahelegen, so alt zu sein wie die Menschheit selbst. Auch das im 2 Jahrtausend v. Chr. verfasste Gilgamesch-Epos sowie griechische und römische Schriften kennen Menschen, die sich in Wölfe verwandeln. Im ersten Jahrhundert nach Christus wird hierbei auch schon der Vollmond als auslösender Faktor zur Metamorphose genannt. Während im Mittelalter der Glaube an Werwölfe nicht stark verbreitet gewesen zu sein scheint und von der Kirche weitestgehend als Aberglaube abgetan wurde, wandelte sich seit dem Beginn der frühen Neuzeit die Sichtweise. Mit dem erneuten Erstarken der Hexenverfolgungen zwischen 1550 und 1650 rückt auch der Glaube an Werwölfe ins Gesichtsfeld der Gerichte. Dabei gab es starke regionale Unterschiede: während in der einen Gegend der Vorwurf, ein Werwolf zu sein, ohne Folgen blieb, konnte in einer anderen schon der reine Verdacht zu einer gerichtlichen Verfolgung führen. Angebliche Werwölfe wurden beschuldigt, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und von ihm einen Gürtel aus Wolfsfell erhalten zu haben, mit dessen Hilfe sie sich verwandeln konnten. Das Wesen, in das diese Teufelsbündner übergehen, wird als unheilvoll und raubtierhaft beschrieben. Die heute in Filmen verbreitete Ansicht, erst durch den Biss eines Werwolfes selber zu einem Werwolf zu werden, ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts aus Hollywood. Die Opfer der ursprünglichen Werwolfattacken wurden zerrissen und teilweise auch gefressen.

Wie bei einer Hexe war der Vorwurf an einen Werwolf der des Teufelspacktes und der Hexerei. Um sich in einen Werwolf verwandeln zu können, musste man einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen haben, ein Vergehen, auf das die Todesstrafe stand. Eine Verurteilung war jedoch nur nach einem "freiwilligen" Geständnis möglich, wollte der Beschuldigte nicht freiwillig gestehen, wurde die Folter angewandt um ein Geständnis zu erreichen. Die Todesstrafe wurde bei verurteilten Werwölfen meist durch Erdrosseln und anschließendes Verbrennen auf dem Scheiterhaufen vollstreckt.

Johann Niehoff hatte also weniger die ihn hänselnden Kinder, sondern viel mehr die weltliche Gerichtsbarkeit zu fürchten. Um einen solchen Prozess wegen Hexerei zu beginnen, bedurfte es allerdings eines Anklägers, in diesem Fall also vermeintlich Hermann Heßling. Dieser machte nun öffentliche die Aussage, er wüsste nicht davon, diesen Vorwurf geäußert zu haben, sondern er könne, wie alle seine Nachbarn, nur von der Ehre und Redlichkeit Niehoffs berichten, hätte über dieses Gerücht auch nicht weiter nachgedacht, sondern es von anderen gehört. Dies wollte er vor dem Gericht und allen Anwesenden bezeugt und bekannt haben. Zeugen des Vorganges waren zwei andere Ahlener Bauern, die mit den beiden Hauptpersonen verwandt waren: Hermann zum Krall war der Schwiegervater Hermann Heßlings, Gerd Kley war wahrscheinlich mit einer Schwester Johann Niehoffs verheiratet. 

Offensichtlich war die Sache damit erledigt. Einen weiterem Eintrag bezüglich Johann Niehoff gibt es in den Gerichtsprotokollen nicht. Johann Niehoff starb erst 1668 ich Ahlen, etwas mehr als 60 Jahre alt. Zwischen den Familien Heßling und Niehoff hatte es schon vorher Streit gegeben. Hermann Heßlings Vater Bene musste schon 1639 2 Reichstaler Strafe zahlen (damals immerhin der Gegenwert von drei Schweinen), weil er Johann Niehoffs Bruder Lubbert öffentlich als Bienendieb verleumdet hatte.

Der "Werwolf" Johann Niehoff ist sowohl ein Vorfahre meines Opas Bernhard Jansen, als auch meiner Oma Katharina Philipps geb. Albers. Von Hermann Heßling stamme ich über meine Oma Thekla Jansen geb. Geiger ab: 

 
  

 

 
 
Hermann Heßling
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Johann Heßling
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Genovefa Heßling
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Anna Maria Piper
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Gebina Maria Christina Heyen
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Gerhard Tangen
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Maria Gebina Tangen
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Anna Margaretha Westhus
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Susanna Maria Dreyer
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Thekla Geiger
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Johann Jansen
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Bernd Josef Jansen