Reiner Wolbers - Der Blutschänder

(Bernd Josef Jansen)

Hofakten sind normalerweise recht nüchtern gehaltene Verwaltungsdokumente. Sie wurden vom Grundherren eines eigenhörigen Hofes angelegt, um die anfallenden Schriftstücke zu sammeln. Wenn z.B. der eigenhörige (leibeigene) Bauer starb, wurde sein gesamtes bewegliches Vermögen verzeichnet und der Wert geschätzt. Die Hälfte davon (die Halbscheid) musste an den Grundherren abgeliefert oder mit Geld ausgelöst werden. Beim Tod einer Ehefrau wurde ein Viertel ihres Besitzes eingefordert. Bei der Übergabe des Hofes an den Nachfolger musste eine bestimmte Summe (der Erbgewinn) bezahlt werden, so auch bei Verheiratung (Einfahrt). Da alle Kinder eines Eigenhörigen ebenfalls eigenhörig waren, mussten diese freigekauft werden, wenn sie den Hof verlassen wollten.

In der Hofakte der Familie Wolbers aus Emmeln (Gemeinde Haren/Ems) datiert das älteste Schriftstück auf den 27. August 1614. Nach dem Tod des alten Reiner Wolbers und dessen Frau Anna wird auf Anordnung des Meppener Richters Johannes Morrien der bewegliche Besitz durch die dazu bestellten und beeidigten Nachbarn Gerdt Bove und Johan Veren verzeichnet. Die Halbscheid wurde auf 111 Reichstaler und 20 Stüver angesetzt. Der Erbgewinn, der für die Übernahme des Hofes anfiel, war auf 90 Reichtaler festgelegt worden. Zu zahlen hatte diese Summe der älteste Sohn und Hofnachfolger, der wie sein Vater ebenfalls Reiner Wolbers hieß. Die 90 Reichstaler für den Erbgewinn hatte er sich vom Meppener Kaufmann Bertold Risow geliehen. An seiner neuen Position als Hofvorstand scheint Reiner allerdings nicht so recht Freude gefunden haben, denn schon im Januar 1616 beklagt er sich bei den münsterischen Räten. Bei der Feststellung des Nachlasses seiner Eltern seien die auf dem Hof liegenden Schulden, die sich auf immerhin 332 Reichstaler beliefen, nicht angerechnet worden. Auch seinen einige Stücke Vieh zum Nachlass gezählt worden, die eigentlich Reiners Brüdern gehörten. Auch hätten seine beiden jüngeren Brüder Tebbe und Wolbert noch nicht die ihnen zustehende Aussteuer vom Hof erhalten. Seine Eltern, die bei ihrem Tode an die 100 Jahre alt gewesen sein sollen, hätten zu Lebzeiten den Hof nicht an ihn abtreten wollen. Mittlerweile 60 Jahre alt und durch die jahrelange tägliche schwere Arbeit verschlissen wäre er selbst kaum in der Lage, den Hof zu führen. Er habe sein rechtes Auge verloren und bei einem Unfall, bei dem die Pferde mit ihm durchgegangen seien, wäre sein rechtes Bein entzweigebrochen und seither verkürzt, so dass er einen hohen Schuh tragen müsse und zum Stehen und Gehen "unvermögen" sei. Zumindest was das Alter Reiners betrifft, ist eine gewisse Skepsis angebracht. Bei der Visitation der Eigenhörigen im Jahr 1614 wird Reiners Alter mit 50 Jahren angegeben. Sein Bruder Tebbe war 1614 40 Jahre alt, der jüngste Bruder Wolbert 38. Unter all diesen Umständen wollte Reiner den Hof an seine Tochter Elsecke abtreten, die nunmehr 23 Jahre alt sei. Elsecke war zwar unehelich geboren worden, Reiner hatte aber deren Mutter Engele aus Raken vor kurzem geheiratet, damit "die sache allenthalben desto besser gangen". Er selber und seine Frau, die ebenfalls 60 Jahre alt sei, wollten sich auf die Leibzucht (den Altenteil) zurückziehen. Allerdings müsste hierzu die Tochter natürlich erneut den Erbgewinn zahlen, wobei Reiner seiner Ansicht nach "Also dadurch in eußerster Armut, das Erbe Aber im underganck gerathen würde". Um dies zu vermeiden, und weil beim Sterbefall seiner Eltern und seinem eigenen Erbgewinn die vorhandenen Schulden nicht mitgerechnet worden waren, bat Reiner nun darum, dass seiner Tochter zum Ausgleich dafür der Hof ohne erneute Zahlung des Erbgewinnes überlassen werden sollte. Leider war die Antwort der Amtsleute aus Meppen negativ. Die Berechnung des Sterbefalls und des Erbgewinnes seinen korrekt verlaufen. Reiner habe nach dem Tod seiner Eltern für seine eigene Person um Gewinnung des Erbes ersucht und seine Tochter müsse bei Übernahme desselben erneut den Erbgewinn bezahlen. Dazu ist es aber nicht mehr gekommen.

Am 23. August 1617 wird "auff empfangenem mündlichen Bevelch der Herr[en] Beampten ihm Embßlandte" vom Meppener und Harener Richter Johannes Morrien gemeinsam mit dem Harener Vogt Laurentz von Lintelen verzeichnet, was "Daselbst[en] auff Wolberts Reiners Wohnung vorhanden befunden". Reiner wird an mehren Stellen als "Vertstrickter" bezeichnet, was in diesem Zusammenhang wortwörtlich als "mit Stricken gebunden", also Gefangener zu verstehen ist. Eine von ihm am 27. August gemachte Aussage über die vorhandenen Schulden ist "Geschehen auffm Ampthauß zu Meppen. Daselbst[en] in der Gefencknuß". Eine Grund für diesen Gefängnisaufenthalt ist nicht angegeben. Am 17. Januar 1618 schreiben der Meppener Drost Dietrich von Velen und sein Rentmeister Bernhard Röve an die Räte der münsterischen Rechenkammer. Sie erwähnen ein Schreiben vom 22. November 1617 "wegen des verrechtfertigten Wolbers Reiner, und deßselben Dochter zu Emmelenn, und wider Ersetzung des Erbs" , das die Räte empfangen haben werden und auf das sie noch keine Antwort bekommen haben. Sie berichten weiter, was "hiezwischen sich zuträget, das das Gesinde das Jenigh, was des verrechtfertigten Reiners Fraw kochet, nit essen, vilweniger in Dienst verpleiben, das gesind auch, so vergangenn Jahr uffm Erb in Dienst geweßen belohnet, und was Innen an Tuch, und sonsten unbezahlt ausstehet, haben wollen" und bitten um "resolution, wie es mit wider ersetzung des Erbs, und dem alten Weibe, und sonsten abzahlung der kendtlichen schulden, gehalten werden solle". Reiner Wolbers und seine Tochter waren also tot (verrechtfertigt) und das Gesinde wollte den Hof verlassen. Offensichtlich gab es sogar so starke Differenzen zwischen ihnen und Reiners Witwe, dass sie sich weigerten, die von dieser gekochten Mahlzeiten zu essen.

Am 8. März 1618 wird durch Johann Morrien und verschiedene vereidigte Zeugen erneut der Nachlass des Reiner Wolbers verzeichnet, da dieser "wegen sichern abschewelichen Excess vom Leben zum Thodt hingerichtet" worden war. Auf der folgenden Seite finden wir auch endlich den Grund für die Hinrichtung von Vater und Tochter: bei der Aufzählung des Viehs gehören einige Stücke "der Dochter Elßken, so wegen begangener Bloitschandt mit Ihrem Vatter, auch hingerichtet". Die damals gültige von Kaiser Karl V. im Jahr 1532 herausgegebene "Peinliche Halsgerichtsordnung Constitutio Criminalis Carolina sah im Artikel 117 hierzu folgendes vor:

Die Straff der vnkeusch mit nahende gesipten freunden 
CXVIII. Item so eyner vnkeusch mit seiner stiefftochter, mit seines suns eheweib, oder mit seiner stieffmutter treibt, in solchen vnd noch nehern sipschafften soll die straff wie dauon in vnsern vorfarn vnd vnsern Keyserlichen geschriben rechten gesetzt, gebraucht, vnd derhaib bei den rechtuerstendigen radts gepflegt werden.

Franz Schmidt bei der Hinrichtung von Hans Fröschel, 1591.
Franz Schmidt bei der Hinrichtung von Hans Fröschel, 1591.

Die Höhe der Strafe wurde demnach von Rechtsgelehrten je nach Schwere der Tat festgelegt. Für Blutschande von Personen, die in grader Linie verwandt waren (Vater-Tochter, Mutter-Sohn etc.) sah das Gewohnheitsrecht die Todesstrafe durch Enthaupten vor. Zunächst mussten die Beschuldigten ihre Tat gestehen, wozu bei hartnäckiger Leugnung auch die Folter zur "Wahrheitsfindung" angewendet werden konnte. So war es sicher auch in diesem Fall geschehen, denn selbst Reiners Frau Engele war "peinlich" befragt worden: am 13. Juni 1618 sagt sie aus "die langwirige außgestandene gefengkliche Anhaltung, und Tortur, unnd dhabei geclagt, das sie hirüber In die Atzungs Unkosten, die sich - 20. Reichsdlr. - 32 . str.- belieffen, und alnoch unbetzahlt ausstünden, verdambt were". Ein unter der Tortur gemachtes Geständnis musste allerdings vom Deliquenten ein zweites mal außerhalb der Folter bekräftigt werden. Eine schwangere Frau durfte nicht hingerichtet werden, daher wurde nach einer Vergewaltigung oder beim Verdacht einer Schwangerschaft eine gewisse Zeit gewartet, bis durch eine Hebamme ein erneutes Einsetzen der Monatsblutung bestätigt wurde. Die Hinrichtungen von Reiner Wolbers und seiner Tochter wird wohl in Meppen stattgefunden haben. Einen eigenen Scharfrichter gab es in Meppen nicht, er wird von außerhalb, wahrscheinlich aus Rheine oder Münster herbeigeordert worden sein. Eine öffentliche Hinrichtung war immer ein großes Spektakel, zu dem Schaulustige von nah und fern herbeiströmten. Sie fand in der Regel auf einem erhöhten Podest statt, damit alle Anwesenden einen guten Blick hatten. Die Hinrichtung eines Blutschänders und seiner Tochter war sicher eine spannendere Angelegenheit als die eines gewöhnlichen Diebes oder Mörders. Ob Reiners Gesinde, seine Frau, Geschwister, Neffen und Nichten anwesend waren? Und vor allem, wie war es zur Tat gekommen? Die Tochter wird sich wohl kaum freiwillig ihrem Vater hingegeben haben, aber dies war für die Strafe unerheblich. Viele Fragen bleiben bei dieser Familientragödie offen.

Die restliche Geschichte des Hofes ist schnell erzählt. Reiners Sterbfall wurde auf 200 Reichstaler angesetzt, die Gebühr für die Einfahrt eines Nachfolgers auf 50 Reichstaler. Wegen der kurz hintereinander geschehenen zwei Hofübergaben waren die Schulden so hoch angewachsen, dass kein Eigenhöriger aus dem Amt Meppen bereit war, die Stelle anzunehmen. Zudem war ja auch noch Reiners Witwe zu versorgen. Selbst eine Zersplitterung des Hofes, also die Verpachtung der Flächen war nicht möglich. In Emmeln gab es nur sechs Bauern, die aber alle mit ausreichend Boden versorgt waren und keine Interesse zeigten, weitere Flächen zu pachten. Letztendlich nahm am 22. Juli 1618 Reiners jüngerer Bruder Tebbe den Hof an, fand aber keine Frau, die zu ihm auf das Erbe ziehen wollte. Gemeinsam mit seinem Bruder Wolbert, der ebenfalls unverheiratet war, bewirtschaftete er den Hof die nächsten Jahrzehnte mehr schlecht als recht. Hinzu kamen die Auswirkungen des 30jährigen Krieges mit seinen Plünderungen und Brandschatzungen, die auch das Emsland stark in Mitleidenschaft zogen. Nach dem Tod der Brüder lag der Hof eine lange Zeit wüst und wurde überhaupt nicht bewirtschaftet. Nach dem Krieg bewohnte die Familie Düsing aus Raken den Hof und bestellte die Flächen. Heinrich Düsing weigerte sich aber, die darauf lastenden Schulden zu tilgen und zog 1699 zurück nach Raken. Letztendlich nahm Hermann Mebben aus Wesuwe das Erbe im August 1699 an und brachte es zu neuer Blüte. Von ihm stammt die noch heute auf dem Hof wohnende Familie Wolbers ab.

 

Reiners Schwester Geseke ist eine Vorfahrin meiner drei emsländischen Großeltern:

 

Reiner Wolbers ca 1530-1614
&/1564 Anna N ca 1540-1614
 
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  Geseke Wolbers *um 1578 † 1652 oo Leffert Schulte *um 1570 † 1628     Reiner Wolbers   
  |     *1564 † 1617  
 




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  Anna Schulte *1598 †n. 1657     Tybeke Schulte *1608 †n 1659     Hermann Schulte *1610 †n 1667     Elsecke Wolbers  
  |     |     |      *1593 † 1617  
  Johann Diekmann *1633 †n. 1669     Geseke Berentz *1645 †n 1688     Hermann Schulte 1667-1715        
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  Heinrich Jansen *um 1680 †n 1726     Maria Elisabeth Siebum 1678-1732     Aleidis Schulte *1703 †n 1744        
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  Christina Angela Jansen 1725-1770     Johann Schipmann 1708-1739     Maria Elisabeth Wilkens 1736-1824        
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  Anna Maria Le Boef 1755-1829     Gerhard Schipmann 1739-1805     Maria Adelheid Voss 1780-1824        
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  Johann Hinrichs 1789-1864     Helena Schipmann 1768-1815     Anna Helena Ahrens 1811-1887        
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  Peter Engelbert Jansen 1824-1896     Catharina Rüther 1797-1877     Anna Catharina Hansen 1844-1920        
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  Engelbert Jansen 1870-1949     Margaretha Schmitz 1833-1892     Margaretha Schröder 1882-1945        
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  Bernhard Jansen 1908-1971     Jakob Geiger 1864-1948     Katharina Anna Albers 1919-2004        
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  |     Thekla Geiger 1910-1987     Frieda Philipps *1939        
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  Johann Jansen *1940     |        
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  Bernd Josef Jansen *1969